Ein Jahr als Schöffe: Was der Gerichtssaal über die Abgründe des Menschlichen erzählt
„Die Gerechtigkeit ist ein Versprechen“, schreibt Paul Ricœur, und während ich das schreibe, frage ich mich, ob nicht alle Versprechen, die wir uns als Gesellschaft geben, am Ende in solchen Sälen eingelöst werden müssen. Ein Jahr lang durfte ich als Schöffe diesem seltsamen Ritual beiwohnen – diesem Versuch, Gerechtigkeit zu administrieren, als wäre sie eine Medizin.
Die Archäologie des Scheiterns
Da sitzt ein Mann vor uns, Mitte dreißig, und ich erkenne in seinem Gesicht zerbrochenes Porzellan – Bruchlinien so fein gezeichnet, dass man ahnt: hier ist etwas mit großer Sorgfalt kaputtgegangen. „Sie hat mich verlassen“, sagt er, und danach kam alles: Diebstahl, Drogenhandel – eine Kaskade von Verzweiflungstaten, die alle in diesem einen Moment ihren Ursprung haben. In dieser einfachen Feststellung liegt die ganze Tragödie emotionaler Abhängigkeit.
Der zweite Fall führt in ein anderes Register der Selbstzerstörung. Ein Unternehmer geht bei eindeutigem Betrugsvorwurf in Revision, obwohl seine Anwälte abraten. Nicht weil er an seine Unschuld glaubt, sondern weil sein Selbstbild es nicht verträgt, als Verlierer den Saal zu verlassen. Ich erkenne jenen Typus des unbelehrbaren Pokerspielers, der mit schlechten Karten höher setzt – nicht um zu gewinnen, sondern aus narzisstischem Nichtnachgeben.
Das Urteilen als anthropologische Übung
Was mich verstört, ist nicht die Schwere der Verfehlungen, sondern die Banalität der Mechanismen. Hannah Arendt sprach von der „Banalität des Bösen“ – ich erlebe die Banalität des Scheiterns. Beide Männer sind gefangen in Mustern, die sie nicht durchschauen: Der eine ist Sklave seiner emotionalen Bedürftigkeit geworden, der andere Gefangener seiner Grandiosität.
Die Hermeneutik der Führung
Diese Einsichten haben mein Verständnis von Führung fundamental verändert. Wenn ich heute einen Mitarbeiter sehe, der schlechte Leistungen zeigt, frage ich nicht mehr: „Was läuft falsch?“, sondern: „Welche Geschichte erzählt mir dieses Verhalten?“ Jedes Verhalten ist ein Text, den man lesen lernen muss. Führung ist weniger das Lenken von Prozessen als das Verstehen von Menschen in ihren Stadien der Verletzlichkeit. Wir alle sind Variationen zweier Grundtypen: Menschen, die vor ihrer Zerbrechlichkeit fliehen, und Menschen, die an ihrer Unzerbrechlichkeit scheitern.
Die Gnade des Nichtwissens
Das Schöffenamt hat mich demütiger gemacht: Je mehr ich über die Abgründe menschlichen Verhaltens lernte, desto weniger glaube ich zu wissen, wer ich selbst bin. Jeder von uns trägt das Potenzial für beide Arten des Scheiterns in sich. Die Gnade liegt nicht darin, dass wir besser sind als die, über die wir urteilen, sondern darin, dass wir – noch – das Glück haben, Richter zu sein statt Angeklagte.
Stefan Mannes ist Kommunikationsberater und Geschäftsführer der Agentur kakoii Berlin. Seit über 20 Jahren begleitet er Firmen, Marken, NGOs und öffentliche Institutionen dabei, Worte in Wirkung zu verwandeln – von globaler Strategie bis gesellschaftlicher Kampagne.
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