
Niklas Luhmann an einem Kolloquium an der Universität St. Gallen (1989)
Niklas Luhmann ist weltweit einer der bekanntesten Soziologen. Im Jahr 1984 veröffentlichte er sein Hauptwerk „Soziale Systeme“, welches rund sechshundert Seiten umfasst. Luhmann hat sich vor allem mit der Systemtheorie einen Namen gemacht, welche auch noch heute in vielen Bereichen Anwendung findet.
Was Systemtheorie bedeutet? Laut Niklas Luhmann grenzt sich ein System, also zum Beispiel die Gesellschaft als solche oder auch ein Unternehmen, von seiner Umwelt ab. Interessant dabei ist, dass Niklas Luhmann hierbei der konstruktivistischen Denkhaltung folgt, wonach alles konstruiert ist. Die Realität ist also nicht um ihrer selbst willen objektiv real, was bedeuten würde, dass sie erkenntnisunabhängig ist, sondern die Wirklichkeit wird anhand von den Erkenntnissen eines Subjekts (Menschen oder Kollektiven) erschaffen. Eine Firma würde demnach eine eigene Wahrnehmung zur Wirklichkeit entwickeln und sich anhand dieser von der Umwelt (Kunden, Gesetzen etc.) abgrenzen.
Wie soll denn nun eine Agentur für Werbekampagnen, welche sich an die Umwelt mit ihren Kunden und potenziellen Käufern richtet, damit umgehen? Es würde bedeuten, dass sich die Agentur in erster Linie von der Umwelt abgrenzt und eigene Maßstäbe setzt. Was liegt gerade intern im Trend? (Die Umwelt interessiert ja nicht.) Was kommt beim Chef gut an? Was nicht? Wer ist die Zielgruppe der Kampagne und mit welcher Gestaltung hat sich diese Gruppe zufrieden zu geben?
An dieser Stelle wollen wir hoffen, dass hinter der Werbeagentur keine Kämpfe sitzen, die kurz vor der Rente stehen und gerne noch einmal werbewirksame Maßnahmen aus den fünfziger Jahren für allgemein gültig erkären wollen. TV-Werbung für Hausfrauen, die dazu angehalten werden, ihren Mann nach Feierabend mit allerlei Köstlichkeiten zu versorgen und keine Widerworte zu geben, würde aktuell in einer emanzipierten Gesellschaft mit Frauen auf den Sprossen einer aufstrebenden Karriereleiter, zurückgehenden Geburtenjahrgängen und einer hohen Scheidungsrate wohl bestenfalls für ein müdes Lächeln ausreichen.
Wie wäre es denn dann mit Luhmanns bekanntem Zettelkastensystem? Seinen Anfang nahm dieses Vorgehen in den fünfziger Jahren. Niklas Luhmann notierte dabei jeden wichtigen Gedanken, jede Idee, auf Zetteln und entwickelte (wohlgemerkt über Jahre hinweg) ein nicht ganz selbst erklärendes Nummern- und Referenzsystem, welches ihm dabei helfen sollte, seine Memos in Beziehung zueinander zu setzen. Ob das für eine Werbekampagne in einer kurzweiligen Welt die richtige Wahl ist? Vielleicht sollte Luhmann hier selbst noch einmal überdenken, ob er die Sache mit der Reduktion der Komplexität richtig verstanden hat…
Gerade für eine Werbeagentur, die für Menschen schreibt, sollte die recht abstrakte und selbst als antihumanistisch deklarierte Systemtheorie noch einmal überdacht werden, denn der Mensch ist hier nur eine Unterteilung in lebendes und psychisches System und damit nicht mehr als ein Kommunikationsempfänger. Wie gut, dass sich Werbeagenturen an diese „Empfänger“ richten, welche selbst individuelle Bedürfnisse haben, die sie durch Konsum anhand von Werbekampagnen befriedigen möchten. Welches System ist denn hier von welcher Umwelt abhängig?
Was kann uns jetzt noch retten? Genau: die Autopoiesis nach Niklas Luhmann. Diese besagt, dass ein System nur dann ein System ist, wenn es sich selbst her- bzw. wiederherstellen kann. Bleibt also zu hoffen, dass sich unsere Werbeagentur nach diesem Versuch ebenfalls wieder autopoietisch wiederherstellt oder deren systeminternen Ideen eben doch nicht ganz von der Umwelt abgegrenzt sind.